Die ideale Familie, mein JF-Geburtstagsgeschenk

Geschrieben von Reinhard am 18. Februar 2010

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[Ich habe mir überlegt, was ich zum Geburtstag dieses Forums, das in mir ja auch Spuren hinterlassen hat (so wie ich glaube, einige von mir in ihm hinterlassen zu haben), beitragen könnte, und bin zu dem Entschluß gekommen, eine meiner Geschichten hier einzustellen.]


Die ideale Familie



1

Mit vierzehn wäre ich fast zu einer richtigen Familie gekommen. Das klingt vielleicht verwirrend, aber ich bin in einem katholischen Heim großgeworden, und die einzige Vorstellung, die man dort von einer Familie hatte, war die von der sogenannte heiligen mit Maria, Josef und Jesus, der wie ich unehelich gezeugt worden war - ich hatte mich in den Zwölfjährigen verliebt, das heißt, in seinen Darsteller: damals lief dieser Pasolini-Film mit der vielzu kurzen Episode, in der Jesus als Knabe abgehauen war, und dem wäre auch ich gern ein Jünger gewesen!

Es war zur Adventszeit, und ein Malwettbewerb wurde ausgeschrieben: natürlich ging es dabei um die heilige Familie. Eigentlich hatte ich bisher immer nur Comics-Figuren gezeichnet, ziemlich perfekt übrigens - doch ansonsten lag meine Begabung auf diesem Gebiet brach, und ich hätte auch gar nicht mitgemacht, wenn mir nicht dieser Pasolini-Film im Kopf herumgespukt wäre, ich meine die Szene, wo der Knabe zwischen den Schriftgelehrten sitzt und Maria und Josef mit wehenden Gewändern angestürmt kommen. Es war kein überragendes Gemälde, das ich zustande brachte, eher eine Konfusion aus Gestrichel und falschen Perspektiven - aber aus diesem ganzen Wust stach Jesu Antlitz beziehungsweise das seines entzückenden Darstellers leuchtend hervor: hier muß mir wirklich eine Muse oder sonst eine höhere Gewalt die Hand geführt haben, denn es gelang mir, dieses Gesicht, erstes und letztes Meisterwerk in meiner Laufbahn als bildender Künstler, und natürlich bekam ich dafür den ersten Preis, zwanzig Mark oder so.

Die Preisverleihung fand im größten Klassenraum der Heimschule statt, und zwar unter der Leitung des Initiators dieses Wettbewerbs, eines ehrenamtlichen Mitarbeiters der Kirchengemeinde von A., einem anderen Kaff in der Umgebung der hiesigen Kreisstadt. Der Mann gefiel mir: groß, dichtes schwarzes Haar, streng zurückgekämmt, ein im landläufigen Sinne schöner Mann, und die Nonnen knicksten lächelnd, ganz betört von ihm. Er hatte sowas Geheimnisvolles: vielleicht lag es daran, daß er von jenseits der engen Heimgrenzen kam. Aber nicht er war die eigentliche Sensation für mich, sondern sein etwa zwölfjähriger Sohn, der ihn begleitete, und der - das hört sich jetzt unglaubwürdig an, aber welches Wunder ist das nicht - ähnelte meinem Portrait, nein, Jesus als Knaben, nein, seinem entzückenden Darsteller im Pasolini-Film: wenn das keine höhere Fügung war!

Aber außer der Übergabe der zwanzig Mark, die ich gleich in Karl-May-Taschenbücher umsetzte, ereignete sich nichts - vorläufig. Die ganze Veranstaltung verlief ziemlich profan: ich kam nach vorn, machte einen Diener, reichte die Hand erst dem Mann, dann seinem Jungen, und nur diesen Händedruck nahm ich als außergewöhnliches Erlebnis mit - für einen weiteren hätte ich gern meinen Preis hergegeben.

Eingesponnen in vorweihnachtlichen Tagträumen, in denen Jesus als Zwölfjähriger beziehungsweise seine Doubles die Hauptrolle spielten, schlug ich meine Zeit tot und wartete auf ein Wunder, das sich erfahrungsgemäß niemals ereignen würde - aber Vierzehnjährige sind nun mal unverbesserliche Romantiker.

Der große Tag kam mit Kling-Glöckchen-klingelingeling, und ziemlich gelangweilt - ich wußte ja, was ich bekommen würde - riß ich meine Geschenke auf. In der Tat gab es keine großen Überraschungen - doch: ein Brief jenes ehrenamtlichen Mitarbeiters der Kirchengemeinde von A., der mich nach Weihnachten für einige Tage zu sich und seiner Familie einlud!


2

Draußen, ich meine außerhalb meiner Heim- und Schulwelt, war ich ziemlich schüchtern - aber einem Jungen gegenüber, in den ich heimlich verliebt war, grenzte meine Schüchternheit ans Krankhafte, und in diesem Falle kam beides zusammen: eine fremde Umgebung und ein Junge, bei dessen Anblick ich total weg war. Richard hieß er und war der Älteste von vier weiteren Geschwistern, zwei Mädchen und zwei Jungen, ebenfalls bildschöne Kinder, so schön, wie ich sie sonst nur im Otto-Versand-Katalog, in den Kapiteln für Kinderbekleidung und Spielzeug, gesehen hatte: ich war immer davon ausgegangen, daß diese Makellosigkeit nicht echt sei, typisch für geschönte Hochglanzmagazine - aber hier war sie aus Fleisch und Blut.

Ich will diese Schönheit nicht beschreiben, würde dabei nur stümpern, und außerdem ist die Beschreibung des Idealen fast immer langweilig: sogar diese Kinder waren in ihrer Vollkommenheit zwar nicht langweilig für meinen Geschmack, aber glatt und ebenmäßig wie Marmor, doch das lag vielleicht daran, daß sie noch lange nicht in der Pubertät, ihre Körper also quasi in sich verschlossen waren, wie die Blüte in einer Knospe. Bei Richard aber war der Kokon schon geplatzt, und das, was man gemeinhin das Sinnliche nennt, schimmerte in Form sekundärer Geschlechtsmerkmale hervor: der Anflug von Flaum auf seiner Oberlippe, die den Stimmbruch ankündigende Heiserkeit, das Fehlen letzter Babyspeckpolster und die sich straffenden Backen unter hervortretenden Wangenknochen.

Beim Eintritt in das Haus dieser Familie war ich, angesichts so überwältigend schöner Menschen, wie zugeschnürt, und gleichzeitig kam ich mir häßlich, deplaziert, sogar ungewaschen vor, obwohl ich zuvor noch gebadet hatte, aber die Anzeichen meiner Sinnlichkeit, für die ich mich jetzt schämte, schienen mir überdeutlich: ich schwitzte zum Beispiel vor Streß, und mein Schweiß roch nicht mehr nach unschuldiger Kindheit, sondern eben so, wie man anders riecht ab einem gewissen Stadium des Heranwachsens. Und was meine Verkrampftheit nicht gerade löste, war die Höflichkeit, mit der ich begrüßt wurde, ja, mir schien, die Kinder, die mir artig die Hand mit einer Verbeugung oder einem Knicks reichten, verschanzten sich hinter einer Förmlichkeit, die mich auf Distanz hielt.

Die Mutter, die sich später als unumschränkte Herrscherin im Hause entpuppte, die ihre Kinder geradezu despotisch in die perfekte Familienidylle hineinzwang, war, das spürte ich gleich instinktiv, eine Mauer aus Ablehnung, obwohl sie ihre Liebenswürdigkeit nach außen hin geradezu übertrieb und mich wie einen Prinzen empfing, die Kinder durch die Gegend scheuchte, damit sie meine Reisetasche hochtrugen und mir Gebäck und Kuchen servierten, wovon ich allein essen sollte, was mir peinlich war, denn es war genug für alle da.

Ich war der Gast ihres Mannes: daran ließ sie keinen Zweifel aufkommen - aber gleichzeitig zwängte sie mich dadurch auch in eine Vorzugsbehandlung, die mich von ihren Kindern vollkommen abtrennte. Ihr Mann, den ich übrigens einfach Heinrich nennen und duzen sollte, obwohl das für mich gar nicht so einfach war, wurde aufgefressen von seiner beruflichen, ehrenamtlichen und privaten Arbeit: frühmorgens fuhr er mit der Bahn zu seinem Büro in die Stadt, spätnachmittags kam er erschöpft zurück, um sich, nachdem er sich umgezogen hatte, im Dorf einer seiner vielen ehrenamtlichen Aufgaben zu widmen, und nach dem Abendbrot fuhr er noch in die Konditorei eines Freundes, wo er eine Konditorlehre gemacht hatte, um dort auszuhelfen. Erst spätabends kehrte er heim, hörte noch mit seiner Frau und mir (die Kinder waren längst zu Bett geschickt worden) eine Schallplatte mit Mozart oder Beethoven, woraufhin sie ihr Strickzeug (alles in der Familie war selbstgestrickt) weglegte und sich empfahl, nicht ohne ihren Gatten darauf hinzuweisen, daß es schon spät sei und er früh raus müsse - er aber blieb, und wir redeten noch lange, wobei ich ein schlechtes Gewissen hatte, weil ich ihm den kostbaren Schlaf stahl.

Zum ersten Mal hatte ich einen erwachsenen Freund, der mir zuhörte, und ich sprudelte über in meinem Bedürfnis nach Aussprache. Wir redeten über alle möglichen Dinge, schulische, persönliche, allgemeine, politische, auch über Glaubensfragen, und nachdem ich ins Heim zurückgekehrt war, ging der Austausch brieflich weiter - bis ich in den nächsten Ferien wieder eingeladen wurde. Es ist eine große Versuchung, sich schriftlich auszuschütten. Im Brief siegte bald mein hemmungsloser Mitteilungsdrang, der jede Scham wegspülte, und so kam es auch, daß ich diesem Mann Intimes anvertraute, worüber ich noch mit keinem gesprochen hatte, zum Beispiel, daß ich "hin und wieder auch homoerotische Gefühle hege", wie ich mich gewunden ausdrückte. Und, oh Wunder: er reagierte verständnisvoll darauf - nun brach ein Damm, und ich überhäufte ihn mit meinen Bekenntnissen.

Natürlich war ich beim nächsten Besuch erst mal verklemmt: wie offenherzig, ja, exhibitionistisch ich mich in meinen Briefen geäußert hatte, so zu war ich dann anfangs ihm gegenüber, aber er achtete das. Da es die Frau verstand, mich vor ihren Kindern abzuschirmen, saß ich tagsüber isoliert und wie auf dem Präsentierteller im Wohnzimmer, während die Kinder ihren zahllosen Ämtern nachgingen, angefangen von der Hausarbeit bis hin zu Unterrichts-, Sport-, Pfadfinder- und Meßdienerstunden (sogar die Mädchen waren Meßdienerinnen, etwas Neues damals, weshalb sich diese Familie besonders fortschrittlich vorkam) - ich saß also da und himmelte sie aus der Ferne an, wie sie übrigens auch mich: Martin, der zweitälteste Junge, schien mich zu bewundern und zu verehren als einen Vertrauten seines Vaters, den er auch nur aus der Ferne bewundern und verehren konnte. Für Johannes, den Kleinsten, der respektvoll zu seinen größeren Geschwistern aufschaute, schien sein Respekt für mich durch den Respekt der anderen noch vergrößert zu werden, jedenfalls betrachtete er mich mit einer Hochachtung wie sonst wohl nur noch Sankt Nikolaus.

Unerträglich war das alles, auch die gemeinsamen Spaziergänge sonntags nach der Messe, an der ich nicht teilnahm, weil ich dem Mann, den ich immer noch nicht unumwunden Heinrich nannte und duzte, in langen Briefen meinen Zweifel an allem Religiösen erläutert hatte und jetzt nicht einfach wieder in die Kirche gehen konnte, obwohl ich mir gern seine hübschen Meßdiener-Kinder angeschaut hätte - wir gingen also spazieren: vorbildlich, Vater und Mutter hinten, die Kinder im Gänsemarsch vor ihnen her, damit die Frau jederzeit die Kontrolle über sie hatte. Sie geizte auch nicht mit Ermahnungen und Anweisungen, und besonders Jo, der Fünfjährige, durfte nicht, wenn er, fußmüde nach langem Marsch, zu quengeln anfing, an die Hand genommen werden. Ich durfte gehen wie ich wollte, als sei ich der dazugehörige Hund, der mal vor- und zurücklief, hier scharrte, dort vom Weg ins Gebüsch abbog, um ein verstecktes Vogelnest zu beschnüffeln, und ich stellte es mir als revolutionäre Tat vor, den weinenden und humpelnden Kleinen auf Huckepack zu nehmen - leider hatte ich nicht den Mut dazu.


3

Die Mutter der Mutter, eine große, hagere Frau mit bleichem Gesicht und dunkler Brille - sie war blind - kam oft zu Besuch und saß dann auf der Couch, mir gegenüber, streng und gespenstisch, und die Kinder schlichen auf Zehenspitzen herum oder wurden auf ihre Zimmer geschickt: die Oma, eine Diabetikerin, litt unter Depressionen und ertrug keinen Krach, weil der ihren Zuckerhaushalt durcheinandergebracht hätte. Sie glich auf fatale Weise ihrer Tochter, die auch diese Krankheit hatte, auf die ihre ganze Familie Rücksicht nahm, und es war unheimlich, sie abwechselnd mit Stricknadeln und Insulinspritzen hantieren zu sehen. Außerdem hatten beide häufig Migräne, und dann mußten die Kinder im Garten spielen. Ich hätte mich ihnen gern angeschlossen, doch wir waren so gehemmt voreinander, daß ich sie weder zu fragen wagte noch sie mich einluden - überhaupt wußte ich nicht, ob es der Frau des Hauses recht gewesen wäre: zwar sagte sie immer, sie sollten mich nicht stören, doch das klang so, als gebe sie mir zu verstehen, ich sei als Spielkamerad ihrer Kinder unerwünscht.

So verzog ich mich auf mein Zimmer, das in Wirklichkeit Richard gehörte, den man für die Zeit meines Besuches unten im Keller einquartiert hatte, was mich ziemlich bedrückte, wollte ich ihn doch nicht aus seinen vier Wänden verdrängen, aber für ihn war es ein Abenteuer, unten im Spielkeller auf einer Art ausklappbarem Feldbett zu schlafen, und es war ihm sogar eine Ehre, mir sein Bett abzutreten. Wie preßte ich mich in seine Matratze, um seinen Geruch zu erschnüffeln, doch es roch nur nach frischer Wäsche, und ich liebkoste gerührt einen fadenscheinigen Teddy, früher wohl sein engster Vertrauter. An der Tür klebte ein Anti-Raucher-Plakat: ein Mann in einem riesigen Aschenbecher zappelte unter einem riesigen Daumen, der ihn zerdrückte. Auch hingen da Poster von Militärfahr- und -flugzeugen an den Wänden, dazwischen Kinderzeichnungen, und auf den Regalen standen die zusammengeklebten Modelle der neusten Starfighter und Panzer: sein Onkel, ein Bruder der Mutter, ein strahlender Siegfriedtyp, war nämlich Pilot bei der Bundeswehr - maßlos bewunderter Held der Familie. Ich, künftiger Kriegsdienstverweigerer, fand ihn eher abscheulich mit seinen Sprüchen über Ordnung und Disziplin, und als ich ihm einmal zaghaft widersprochen hatte, sah er mich mit so kalten Augen an, daß ich schlagartig verstummte. Jetzt las ich in einem der WAS-IST-WAS-Bücher, in der illusorischen Annahme, dadurch Richard nahe zu sein, der sie ja auch wohl gelesen hatte - und ich sehnte mich, sehnte mich schrecklich nach ihm.

Hielt ich es hier nicht mehr aus, unternahm ich weite Spaziergänge in der ländlichen Umgebung, heulte das stumme Gebüsch an und empfand angesichts endloser Wiesen und Felder meine endlose Einsamkeit nur noch stärker. Müde und leer kehrte ich um und erhaschte noch einen Blick auf die Kinder beim gemeinsamen Essen, das mit langen Gebeten begonnen und abgeschlossen wurde, während ich wie versteinert dabei saß, angewidert von dieser aufgezwungenen Frömmigkeit, gleichzeitig bewegt von den zarten Stimmen der betenden Kinder: Engel in Andacht, so schien es - da traf mich Richards Blick, und ich betete mit, lächelnd, was hießen sollte, er sei mit meiner Danksagung gemeint.


4

Einmal - die Mutter lag mit einer Migräne oben im Bett und die anderen Kinder spielten draußen - hörte ich vom Wohnzimmer aus Richard im Keller die Katze locken: "Miez, miez, miez", und kurz darauf maunzte sie klagend, als quäle er sie. Ich ging hinunter, wollte ihn unter dem Vorwand, nach der Katze zu schauen, in seinem provisorischen Zimmer überraschen, drückte die angelehnte Tür auf und steckte den Kopf durch den Spalt. Dämmerig war es hier, und ich nahm ihn und die Katze nur schattenhaft wahr. Sie gab weiter jammernde Laute von sich und umstrich ruckhaft den Jungen, der auf dem Klappbett im Schneidersitz hockte und starr zu mir hersah. Ich schlüpfte herein, und er rührte sich nicht - nur seine Hand, in die die Katze immer wieder hineinstieß bewegte sich leicht. "Was hat sie denn?" fragte ich. Er zuckte die Schultern, und die Katze miaute, buckelte, drängte sich gegen die Hand, rieb sich rückwärts dagegen, mit steil erhobenem Schwanz, so daß der rosige After wie eine kleine Wunde im Dunkeln schimmerte - da begriff ich: sie war naß, ebenso Richards Finger. Er sah mich ausdruckslos an, und in mir begann es zu trommeln. "Ich will dich auch mal so streicheln", sagte ich stockend und erschrak, als er hochfuhr - doch er schob nur die Katze zur Seite und streckte sich aus auf dem Bett. Meine Hand bewegte sich vorsichtig auf seiner Brust und spürte das heftige Klopfen darin - "Richard!" ertönte die Stimme der Mutter, und er sprang auf und rannte hinaus.

Mir war wie im Traum: ich ging nicht, sondern schlafwandelte die Treppe nach oben, saß dann in meinem, nein, Richards Zimmer und hielt seinen Teddy im Arm. Später legte ich mich aufs Bett und zwang mich, im WAS-IST-WAS-Buch zu lesen - als die Tür plötzlich aufging und Richard eintrat. "Möchtest du was?" fragte ich und stand auf, um meine Tasche von der Spielzeugkiste zu räumen. "Katze streicheln", sagte er grinsend, flog auf mich zu und riß mich mit sich aufs Bett. Er war nicht mehr zu bremsen, und bald waren meine Finger so naß wie seine vorhin bei der Katze.

"Katze streicheln" nannten wir das von nun an, und er machte es auch bei mir, denn er war wie ich versessen darauf, aber im Haus war das vielzu gefährlich. Also suchten wir nach anderen Möglichkeiten, trafen uns, wenn er von seiner Pfadfinderstunde zurückkam, in einem Waldstück auf einem Hochsitz, oder ich ging ins Hallenbad, wenn er Schwimmunterricht hatte, und zwischendurch verschwanden wir in einer Toilettenkabine: es war eine richtig romantische Liebesgeschichte, denn wir begehrten einander nicht nur - wir schwärmten uns an, wo wir gingen und standen!


5

Vollkommen glücklich war ich, als Heinrich, der Vater, erzählte, sie hätten schon lange vorgehabt, ein Kind in Pflege zu nehmen oder es gar zu adoptieren, und er fragte mich, ob ich nicht Lust hätte, für immer bei ihnen zu wohnen. Und ob ich Lust hatte! Ich sah mich schon als großen Bruder der fünf hinreißenden Geschwister - nur mit der Mutter würde ich meine Probleme haben.

Dieses Gespräch sollte vorläufig unter uns bleiben: er müsse erst noch mit seiner Familie reden, und ich war sicher, daß wenigstens ein Mitglied hocherfreut zustimmen würde - Richard! Quasi ein Bruder auf Probe, überwand ich meine Hemmung vor den anderen Kindern und ging auf sie zu - unglaublich: sie waren begeistert von mir, und wir tobten im Garten und auf ihren Zimmern, wobei ich mich stets vor der Mutter in Acht nahm und die Kinder in ihrem Überschwang bremste. Bald schon gehörte ich wie selbstverständlich dazu: so gelöst war ich nie vorher gewesen, und ich liebte meine vor kurzen noch scheuen Stiefgeschwister in spe.

Getrübt wurde meine Freude durch einen Vertrauensbruch von Heinrich. Ich hatte ihm erzählt, daß ich meine ersten erotischen Erlebnisse mit einem Priester gehabt hatte, und war erschrocken über Heinrichs Empörung darüber. Ich versicherte ihm, daß es mir nicht geschadet habe, vielmehr hätte ich es genossen, von dem Mann liebkost zu werden, und ich bat Heinrich, die Sache auf sich beruhen zu lassen, was er mir dann auch versprach. Doch später erfuhr ich, daß er den Priester beim Generalvikariat angezeigt hatte, woraufhin ein Disziplinarverfahren gegen ihn eingeleitet wurde, und er kam nur darum glimpflich mit einer Versetzung davon, weil ich mich weigerte, gegen ihn auszusagen und nunmehr behauptete, da sei gar nichts gewesen - was wiederum Heinrich verstimmte, der meinte, man müsse sowohl die Kinder jeder Gemeinde als auch das Priesteramt vor einem derartigen Mißbrauch schützen.


6

Dann, bei einer Familienfeier, war wieder alles Harmonie. Wir saßen im Kerzenlicht um den ausgezogenen Tisch im Wohnzimmer: alles schimmerte festlich, das weiße Tischtuch, das beste Geschirr und Besteck, die Kristallgläser. Ein sanfter Schein lag auf den Gesichtern der Kinder, und meine Stimmung war noch gehoben vom Wein, den wir zwei Männer (Heinrich behandelte mich wie einen Erwachsenen) zum Essen tranken. Selbst die Mutter, die aus Diätgründen nicht mittrank, war freundlich und heiter, erzählte Familienanekdoten, ließ Jo, den Jüngsten, auf ihren Schoß klettern und schmuste mit ihm.

Als Mutter und Kinder zu Bett gegangen waren, saßen Heinrich und ich noch lange trinkend beisammen, und er eröffnete mir, daß ich, wenn ich wolle, ab heute mit zur Familie gehöre, worauf ich ihm um den Hals fiel, und er küßte mich: väterlich, wie ich glaubte, und ich küßte ihn auch. Euphorisch stieg ich die Stufen hinauf, fiel ins Bett, und es drehte sich alles. Da ging die Tür noch mal auf, und Heinrich kam rein, setzte sich zu mir aufs Bett, drückte erst meine Hände, umarmte mich dann, und ich umarmte ihn auch, erwiderte seine nun leidenschaftlichen Küsse, hatte auch nichts dagegen, als er meinen ganzen Körper zu streicheln begann: es war mir so angenehm wie vormals die Zärtlichkeiten des Priesters, und ich bog mich in seine liebkosenden Hände. Dann kniete er vor mir, beugte sich über mich, und ich spürte seine Lippen an meinem Schwanz, ließ ihn gewähren, sah es als eine Art Blutsbrüderschaft und knöpfte ihn auch auf, um den Pakt zu besiegeln. Berauscht, noch Heinrichs Geschmack auf der Zunge, schlief ich ein.


7

Am nächsten Tag dann der Kater, und ich saß mit Kopfschmerzen im Garten. Heinrich erschien erst zum Abendbrot: genervt, als hätte auch er mal Migräne, und er herrschte die Kinder wegen einer Lappalie an, jagte sie raus aus der Küche. Allein mit ihm, hoffte ich auf ein klärendes Gespräch, doch er hatte angeblich zu tun, entschuldigte sich und verschwand. Beklommen saß ich als einziger jetzt am Tisch, voller Schuldgefühle: als hätte ich die Situation in der Nacht ausgenutzt, ihn gar verführt, aber er war doch zu mir gekommen - ich verstand das alles nicht. Spät abends kam er zurück, und ich fragte, was los sei, doch er war müde, wollte gleich ins Bett, sagte, es hätte nichts mit uns zu tun, aber das, was unter Alkoholeinfluß zwischen uns geschehen sei, dürfe sich nicht wiederholen - nein, er leide an einer Krankheit, von der er mir nie was erzählt habe, und die regelmäßig auftauchenden Schmerzen plagten ihn jetzt.

Alkoholeinfluß, eine Krankheit: ich schwankte zwischen Mißtrauen und Sorgen, wollte näheres wissen - später, sagte er abwinkend und ließ mich allein. Nie hat er über seine mysteriöse Krankheit gesprochen, auch nicht gesagt, ob es der Wein war, der ihn zu mir getrieben hatte, oder ob er mich wirklich mochte. Er verhielt sich gleichbleibend höflich, ja, förmlich, doch vorbei waren unsere endlosen Gespräche, und auch von meinem Umzug hierher oder von sonstigen Zukunftsplänen war nicht mehr die Rede - als hielte er nur noch zum Schein die Gastfreundschaft aufrecht und wäre froh, wenn ich endlich aus seinem Leben verschwände.

Natürlich wartete ich nachts vergeblich auf ihn - dafür schlich sich manchmal Richard zu mir nach oben, und ich bugsierte ihn hastig hinaus aus dem Zimmer und tappte mit ihm in den Keller, wobei, wenn wir nicht vorsichtig waren, die eine oder andere Holzstufe knarrte. Einmal - ich lag mit dem Jungen auf der Matratze und spürte seinen zappelnden Leib nackt an meinem - hörte ich ein solches Knarren und fuhr hoch. Ob er es nicht auch gehört habe, fragte ich, doch er wollte davon nichts wissen, meinte, die Treppe knacke manchmal von alleine, oder es sei die Katze gewesen, und umschlang mich wild. Da: wieder ein Geräusch, und wir fuhren auseinander. Ich schlüpfte in meinen Schlafanzug, wischte aus dem Bett, tappte im Dunkeln zur hinteren Kellertür in den Garten, stolperte polternd über eine Gießkanne - das Licht blitzte auf, und wir kniffen geblendet die Augen zusammen. Heinrichs weißes, versteinertes Gesicht. Ich knöpfte mir die Jacke zu und setzte zu einer Erklärung an. "Raus!" flüsterte er, und zitternd setzte ich mich in Bewegung. "Papa ...", schluchzte Richard. "Wir sprechen uns noch!" schnitt Heinrich ihm das Wort ab und folgte mir die Treppe hoch. Meine Panik und Scham kippten plötzlich in Wut um, und ich zischte ihn an, er sei schließlich auch mal nachts zu mir gekommen. Er reagierte mit eisigem Schweigen, und ich wußte: alles ist aus!

Unruhiger Schlaf, aus dem mich Alpträume rissen, und ich wälzte mich hin und her, grübelte, dämmerte wieder ein. Am nächsten Morgen - Heinrich war schon zur Arbeit - faßte ich einen Entschluß: ich packte meine Sachen, zum großen Bedauern der vier jüngeren Kinder, die mittlerweile sehr an mir hingen, und gab vor, für den Rest der Ferien noch bei einem Freund eingeladen zu sein. Richard schwieg, und die Mutter hielt sich zurück. Ich verabschiedete mich und versprach den Kindern, bald wiederzukommen. Die Frau schien von dem nächtlichen Zwischenfall noch nichts zu wissen und erlaubte Richard, mich zu begleiten. So liefen wir, jeder einen Taschengriff in der Hand, schweigend nebeneinander, kamen zum Waldstück, und Richard bog ab, zog mich hinter sich her, zum Hochsitz, doch wir stiegen nicht hinauf, sondern stolperten in eine laubbedeckte Kuhle und ließen uns fallen. Er drückte sein liebes Gesicht in mein Hemd, das bald klatschnaß war - so lagen wir lange, zärtlich wie nie, und ich wußte: es war ein Abschied für immer.

"Wenn dich dein Alter ins Gebet nimmt, schieb alles auf mich", sagte ich, stand auf, zog ihn auf die Beine, und er umhalste mich wieder. Langsam gingen wir zum Bahnhof. In der Halle weinte er an meiner Schulter, und seine Tränen liefen mir in den Kragen, während ich gegen mein eigenes Heulen ankämpfte. Ehe wir den Bahnsteig betraten, küßten wir uns und verabredeten Telefonate und heimliche Treffen. Der Zug fuhr schließlich ein, und ich mußte Richard davon abhalten, mit mir in den Wagen zu steigen. Als es losging, stand er winkend da, wurde kleiner und kleiner, und ich verlor ihn bald aus den Augen.


8

Später - ich hielt's nicht mehr aus - wählte ich mal die Nummer.
"Wer da?" meldete sich eine unbekannte Kinderstimme.
"Und wer ist da?" fragte ich zurück.
"Jürgen."
"Bist du ein Freund aus der Nachbarschaft?"
"Nee."
"Kann ich mal Richard haben?"
"Is nicht da - aber meine Mutter."
"Bist du vielleicht aus dem Heim?"
"Ja. Aber jetzt bin ich hier zu Hause!"
"Ach so - tschüß", sagte ich und legte auf.

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