II Notizen
August I
Sa., den 5.
Jeder Schritt ins Ferne (fernelos) ein altklassischer Sieg. O ich! sieghaftes Mädchen. Land mit gefälschten Lichtern belegt -:- wer tut so? Bei niedergelegten Fahnen aus dem Haus gelaufen, nicht ins Freie. Also ein Versuch über die Fiktion als Wirklichkeit. Im Sommer. Den Gegensatz gegangen. Gewittrigste Niederlage. 12 Kilometer zur Bundesstraße. In einer Wirtschaft Wasser getrunken und glückliche Rheinländer betrogen. Zu Rentweinsdorf reißt ein Schulterriemen. Glücklich tumbe Georgspfadfinder nehmen mich bis Bamberg mit. Sind dem Beugrecht von Leben gerechter geworden als der Gänger. Brauche einen Sattler.
Bamberg. Günther besucht, den harten, eigengewordenen Arbeiter und Existenzialisten; über die Freiheit zu scheitern verhandelt. Sitzen am Brunnen bei Nacht. Geister sind ausgegangen. Wohin?
Goethestuben. Ein Student der Psychologie, Pfarrerssohn, milde Stimme, alles ist wahr, wahr wie die Wirklichkeit. -- Angenehme Nacht im Apfelgarten der Karmeliten. Trete in Tag zurück mit dem Angelusgeläut: Dom, St. Michael, St. Martin, St. Theodor, St. Gangolf, Obere Pfarre, Laurenzikapelle.
So., den 6.
Statt nachmittags wie geplant in Passau, abends in der Wilden Rose. Durchspiegelte Bäume. Große Lage August? Bin blind. Kinderspiele um die Biertische. Zwölfjähriger Junge mit schönen, seltenen Spiegelaugen. Ballspiele. Gerechte Freude ihrer Erzeuger und Erben: die Urgroßeltern.
Erbärmliche Seelenmechanik. Mein degeneriertes Gespür sucht nach dem Jahrlauf - Spannung und Schuß - verzweifelt Unterredung mit Idioten, findet neue Liebe: Kollegiale Achtung vor dem gescheiterten Leben. Alles ist menschlich.
So wenig wie ich von einer Umarmung Glück erwarte - hatte erst vor Tagen eine starke, gehoffte - habe ich Sehnsucht nach einem Erlöser zur Ewigkeit. Wer ist der, der über die Erbärmlichkeiten Gnade träuft? -- Eine Spezialität: Altfisch in Salzlake.
Kunst meiner Schrift ist Ironie in der Form, daheraus der Humor, blank vieler Wirklichkeiten, gegen-existentiell. Vor dem Ereignis reißender Zeit läßt Er mich wissen, daß ich schweigen soll. Da werde ich dann schweigen. Kann nicht mehr wollen, ich könnte. Während die Gespenster von den Geistwerken lassen, greife ich nach dem Sturmtuch der Furcht, aller Siege. Ich reite trotzdem.
Henrik getroffen, der nicht mehr Feind ist. Seltsam, daß er´s je war. Über Wehrkraft, Strategie, Bosnien gesprochen. Mein gegen die Sinne gerichteter Schmerz ist nicht vermittelbar.
Mit einem Abiturienten, der Theologie studieren will. Er will das Papsttum beseitigen. Die Sakramente sind ihm Symbole, Zeichen der Liebe, nicht erlösende Tat einer Gottheit. Am Tisch ein Dutzend der Bamberger Domjugend. Mein Gesprächspartner gilt als konservativ.
Verschiedene Kneipen. In der Nacht gefroren.
Mo., den 7.
Der Riemen wird erst morgen mittag geflickt sein. -- Will in einer Tour nach Österreich. Abreise also Mittwoch. Bamberg: nirgendwo greifen die Fußeisen besser.
Blasses Gelenk und Blutfluß in der Sonne. Wie damals. Wir heroischen Knaben sind einfach weitergelaufen.
Josef Schaumann am Grünen Markt getroffen. Ist verblüfft über meine Wandlung, sagt: Auf jedenfall ist dein Weg, sind alle deine Wege gut. Auch wenn du nicht in den Orden zurückkehrst oder wenn du zurückkehrst und nach Jahren wieder gehst. Du bist auf dem richtigen Weg. -- Wie kann er das sagen? -- Ich lüge gut, habe Sehnsucht, daß ein wölfischer Meister angreift.
Ich rufe die Wölfe.
Und wer ist Benjamin? Mutter war mit Zigeunern gezogen, hat Igel und Schlange gekostet. Vater ist der Schalk. Hatten schon dreizehn Halbe. Schwaben. Schwer-geschmeidiger Dialekt. Macht mich bei Knaben narrisch. Wie schön ist Benjamin? -- Ruhm seiner freien Eltern, über die er herzlich lacht.
Bin ins Haus der Familie eingeladen.
Auf Witti getroffen: Das Bündische bindet uns nicht. Die Exploratores hatten ihn als Jungen gesucht, genommen. Ich habe den Bund (wie die Kirche) in der Not von Freiheit gewählt (den der Einzelnen haben wir nicht gefunden).
-- Benjamins kindliche Gewalt geht mir nicht aus dem Sinn. Kindliches Glück verwirrt und zieht mich.
Ich trinke zuviel Bier. Ich trinke zuviel Wein.
Schreiben entdeckt mir den Ablauf kranken, verliebten Scheiterns.
Noch immer wollüstig in Akte gegliedertes Erbrechen auf Häschen im niedlichen Niedgehege. Vor mir die Bürgbeiter, lustige Götter hinter mir (hebben åll sex met kenderen).
Was ich sehe, soll möglich sein. Habe die Drohung des Geschauten seit je verstanden. Erkläre den Fremden und mir selbst schmal vorkragende Orte meiner Wirklichkeit, daß ich nicht in den Tod falle.
Di., den 8.
Erstes Gespür von Straßenleben. Gefährlich, sich der anderen, völlig-reichlich verliebten Liebe hinzugeben. -- Bin mürbe wie ein Liebesgebäck, das die Braut dem Bräutigam reicht.
Abends Witti im Garten getroffen. Noch 10 Minuten auseinander: War schon eine halbe Stunde vorher in der Milchluft Tauwerk gerissen, Witti einzeln sicher gewesen, mich zu treffen. Der Bund, daß er zu den Nerothern gegangen ist, ich aus verwandten Gründen bleibe -- sehr unwichtig. Hört man doch Nachtigallen nirgendwo wie überall.
Heute habe ich sie lieblich gehört. Im Aspekt gefährlicher Fremde.
Kann mir vorstellen, daß mir gerecht wäre, im dumpfen Atmen, trinkend an der Straße zu sitzen. Gott, der mir kein Gott ist, bewahre mich davor.
Zwölfjähriger Verzweifler hockt mir ein, der wert ist, beschrieben zu sein. In Gossen (Indien? -- Dessau!).
Morgen Aufbruch nach Österreich. Will die Gnade zwingen. Hinzunehmen, wenn die Stadt mich hielte. -- Träumte den Ritt dann als Weib, das ihren unbesoldeten Haß von der Kanzel auf die Allmende gießt.
Mi., den 9.
Zu spät losgegangen. An Ausfallsstraßen gestanden. Eine Schnellstraße zuletzt, die Autobahn wird. Keine Haltemöglichkeit für Benziner. Bin durch Felder nach Bug gelaufen. Saß im Lokal des Rudervereins an der Regnitz. Bin in den Apfelgarten zurückgekehrt. Kröte gebaut. Hat mich Bamberg zurück.
Will aufs Wochenende warten, um mit dem Billig-Billet der Bahn zu fahren: Da finden mich im Greif drei zeit-überfällige Brüder, Pfadfinderführer aus Hirschhaid. Werde morgen dort nächtigen. Am Freitag mit sieben DPSG-Rovern bis auf St. Johann im Pongau. Ich freue mich.
Der Tag war matt, schwer, hell.
Verlassen, was ich nicht kenne? Gott küßt mir die Stirn, sobald ich gegen seinen Wind stolpre -- letztes Einziges: dämonisch zu verunsichern.
Vor dem Zelt, auf dem Apfelberg: Vollmond, Grillen, Trollinger. Taugeruch. Dächer der Nachtstadt. Apfelbaum hängt über.
Fr., den 11.
Nach St. Johann gekommen. Mit den Pfadfindern im Kunststoffzelt auf dem Campingplatz. Die drei Brüder bedürften der Jenseits-Schickung (und für welches Reich dann streiten?). Will schreiben, erst morgen sei Aufbruch. Mein Gespür nimmt Stand und Aufbruch stetig mehr für Eines.
Will den Weg spüren durch mich durch, Mineral von Weltsamkeit. Torheit (noch einmal), nicht vorher halten: Gott muß mich schlagen oder ich ihn. Rückkehr ohne Wandlung: ungerichtet in den nichtigsten Tod.
Hatte bei einem häretischen Priester gebeichtet. Nicht anders, hätte ich bei irgendeinem der priesterlichen Anderen mich selbst bekannt. Bin verzweifelt.
Hatte die Wölfe gerufen und Wölfe waren gekommen. Ich schreibe: Ich rufe den Geist des Meisters, der zerschlägt, fordere, daß er den Lügengeist nimmt. Das muß er tun, ist nicht zuviel. Dann lebe ich. Wie ein heiliger Mörder sich die Vaterschaft wünscht, so erwarte ich das Wunder.
Sa., den 12.
Autostopp von St. Johann über Wagrain, Schladming, Admont, Hieflau, Gaming nach Ybbs. In der Dunkelheit über Ybbs hängengeblieben. Helle weiße Gärten am Tag: in der Dämmerung bellen Hunde.
Bin auf der Sommerterrasse des Nagelhofs in eine Hochzeitsgesellschaft geraten. Prächtig verstecktes Wirtshaus am Hang über der Donau. Hätte zu andrer Zeit hier kindliche Mythen gelebt, erfunden. Umflorter Mond schwimmt im Strom. Schloß Persenbeug im Spiegel. Geburtsstätte des letzten Kaisers, Karl. Auf weiter, leerwerdender Terrasse, aus dem Saal Musik. Ich flüstre häretisch: Gott, dein Leben war so gut! Daß mir der Wein schmeckt!
Was die Wölfe betrifft: Drei Brüder Wolf. Habe Vater und Mutter gesprochen, mit dem Vater Winterholz geschichtet. Seit 1594 Mühlherren. Jetzt noch, bis zum Ende des Vaters, Schreiner. Generationen gläubiger Artung ins Leere. Siebzehn, achtzehn, zwanzig. Das große Eine. Jürgen ist innegewandt, Christian hat das Lachen.
Das Aufeinandertreffen wird schwer. Wir lassen keinen grußlos ziehen! Heil!
So., den 13.
Aus dem Achtpfund Bücher, das ich schleppe: „Die Zeit der alten Mächte im Weltenplane ist abgelaufen, und das Licht, mit dem sie uns erfüllten, gleicht heute nur noch dem schwachen Glanz am abendlichen Himmel bevor die Nacht hereinbricht (....) Uns aber bleibt heute nur unausweichlich auferlegt, auch in den Zeiten eines transzendenten Mächte-Interregnums, daß wenig Gnade und Hoffnung offenhält, unser Leben zu führen (.... ) Haben die tanszendenten Mächte eines Äons sich aber einmal erschöpft, dann widerspiegelt sich das auch in uns als Verlust von Glauben und damit jenes Wissen um die Wirklichkeit und Wahrheit eines jeden Geschehens.“ (Alfred Schmidt. Die Natur der Liebe.) -- Ich fürchte, vor solche Kenntnis gestellt, kläglich, klanglos zu zerbrechen.
Wie ich das Zwettler Seminar betrete -:- singt das Tantum Ergo. Haltung! Falle in der Kapelle, ohne das Rückengepäck abzusetzen, auf die Knie. Panem de caelo praestitisti eis! Pater Anton, Mitbruder ehegemalig im Orden, segnet. Fragt mich im Schulgarten, ob ich noch dreimal täglich mein Gewissen erforsche, spricht von der treuen Haltung im Kleinen (nicht im Großen? oder sonstwo; spät im schlechten Gedächtnis Stücke von Generations-Geschichte, heilloser Schlächterei oder gemäßigter, die in Sanftmut endet). Der tägliche Rosenkranz. Das Herzensgebet. Womöglich hat er recht. Rücksichts göttlicher Autonomie wären solche Akte ausschließlich, blutig, vor den überwundnen Kirchenpforten ohne Absehn zu leisten.
Wenn nun eiserne Waffen goldne schlagen, flüstre ich am Ohr des Schwätzers, fällt, was anderntags stieg; ins Zwölf-Ohr des jüngsten alten Kameraden: Drei Wege und einer. In der Nacht beten. Reiten in der Nacht. Dieser eine andere: nachts sterben, weniger: getötet werden.
Tage sind heiß, Nächte kalt. Himmel trägt mit stützend stärkstem Blau-Fern den ausgerufnen Herbst (ballon-blau).
Mo., den 14.
Abendmesse? Ertrage die Worte nicht. Der Predigt bedarf das Opfer? Ungezielte Bewegung auf Plätzen. Was vor alten Fassaden frei lacht, ängstigt mich.
Seiner Majestät entfernt, der in die Tempelgosse zurückgeworfnen ägyptischen Hure Maria, Maria Aegyptiaca, freundlich nah, bin ich auf die Pilgerung gezwungen. Weiß nicht, was ich in österreichischen Waldprovinzen zu tun habe, komme nicht los. Außen alles zurückgetreten wie innen; kindliche - geheure - Distanz zur Gegenwartsmitte. Spannung dingt Abkehr vom Geschehen.
-- Vorabendmesse zum Hochfest der Kaiserin des Weltalls! Der Zelebrant predigte Häresien mit sanfter guter Stimme. Sprang das schwarze Gotteslamm zum Schlachtfest. Ich kniete dort draußen, am Holz der Vorderbank. Während der Eisenschläge erbrach eine Frau unverschämt Totes über meine Hand: Der Friede sei mit dir!
Hatte die Frau nach mir gegriffen, hörte dann besser, schaute den Haß, da ich den Wunschfrieden begriff, sie lehrte: Friede ihren Brüsten!
Ich schaute die unerbittliche Tanzfrohheit. --
Bin ich 7 und habe Leid, werde gezwungen, zu lachen - längst ins eisblaue Bildspiel der Dinge verliebt, im mir zugemessnen Maß glücklich - und ich hasse ein erstes mal. Entsinne mich schreibend.
Siegelgebet am Abend: Lass mich das Banner dann im späten Augenblick tragen.
Werde im Orkus Adolf überreden, den Baldur zu entjungfern? -- Ich wäre der Mann dazu.
Di., den 15.
Gestern Regen, gutes Schrittwetter heute. Nach dem Zisterzienserstift gelaufen. Anton gab mir Prinzip und Fundament des Ignatius mit auf den Weg, „um über sich selbst zu siegen und sein Leben zu ordnen, ohne sich durch irgendeine Anhänglichkeit bestimmen zu lassen, die ungeordnet ist.“
Unumfaßbar! Kastanie an der Landstraße auf einer Höhe. Staubt blaubraunes Mohnfeld. Steht fern eine Reihe Bäume schwarz. Hinter mir ein Abgrund, ein verborgener Fluß. Monochromatisch angenehme Hochbewölkung. Betäubendes Grau an Stellen rotglutdurchwirkt.
Do., den 17.
-- Ich war der Mörder in der Nacht, der sich kindlich erinnert, verlassen und sicher; wie jeder Mörder. Der Priester des Pfadfinderordens, den ich um eine „Spazierbeicht“ gebeten hatte, ließ mich über Mauern springen, unter Gebüsche ducken, unter Gattern kriechen, dann durch Wald steil bergab über eine gesperrte Holzbrücke, wieder bergauf durch taufeuchtes Gras bis zum Weg im engen lichten Flußtal. -- „Anton“, sagte ich, „für gewöhnlich kommt die Buße nach dem Bekenntnis!“
Nach erteilter Absolution sagte der Priester: „Rein wie die Gottesmutter bist du jetzt.“ Kniete der Pönitent zur Absolution auf feuchter Erde. Starkes Sonnenfeuer im Waldtal.
Unmittelbar nach Beicht und Kommunion der seltsame Wunsch, mich ins Bett zu legen, einzuschlafen.
Wie verschieden ist unser Glück, Anton.
Nachmittags mit dem Rad nach der Ruine Lichtenberg gefahren. An gotischen Mauern strahlendweißer Putz und Diamantquader vortäuschendes Sgraffito. Gefährlich breite Risse in den hochaufragenden Türmen. Der alte Mörtel tritt zutage. Es sieht aus, als genüge ein Tritt, um sich auf ungewöhnliche Weise zu bestatten. In Deutschland wäre das Gelände gesperrt. Im innersten Hof an das Haus Habsburg gedacht und geflennt. Saß lange unter einer Birke. Eine tschechische Familie kam. Der kleine Sohn schaute im Vorübergehn ängstlich nach mir.
Fr., den 18.
An sonnigem Hang vormittags mit Anton gegangen. Woher die Wegangst käme, jeder Augenblick Wissen, zerschlagen zu sein, nach dem dunklen Ort zu fahren? was der Meister seinen Geliebten zudenke, die nicht die Frau, die den pflanzleiblichen Knaben lieben müssen?
Was ich dem guten nüchternen Pferd Anton nie zugetraut hätte, dem korrupten, artifiziellen Menschen zu antworten, geschah doch und ich vergesse es nicht. Nie hätte ich bei meinem bündischen (zähneknirschend hat er´s verraten!) Priesterfreund Peich derweise geprüft bekannt. Hoffe ihn dennoch in Frankreich oder Spanien zu treffen.
Allerlei Unterredungen die Tage beim Frühstück, beim Mittagessen. Der Priester Anton begreift den Bund anders, alles ist ihm nach dem einen höchsten Gut geordnet.
Was mit den anderen ist, die im Wind mit Lächeln verharren? -- Die gehen durch die lösend gesetzten Erscheinungen, stehen der Weltgnade frei entgegen, hoffen das vorgekannte Gebild: eilende Madonna im Wald, Wort an den dummen Jungen am Weg. Oder das Spaltwesen eigener Erscheinung, das im Regenmarsch im Acker nebenher Schritt hält, Dämon, der die Grenzen abschreitet.
Mo., den 21.
Seit Samstag in Salzburg. Ein Freund hat mich erwartet und im Airporthotel bis heute ausgehalten. Eine schlechte Zeit, Andreas. Jetzt wohne ich in einer Jugendpension. Hätte noch sagen sollen, es sind ja nur Worte, mein Lieber, in denen ich meine mir zugemessne Hölle vorwegnehme.
Der Ortszwang ist hier so, daß ich eine Rückkehr nach Franken überdenke. -- Seltsam gewichtetes Leben. Die zur Freude geborenen sind im Unglück.
Di., den 22.
Risse: Über der Stadt, im Restaurant Bürgerwehr, einen hinfälligen Herrn im Mantel gesehn, der durchs Glück gegangen war, Pforte, hinter der er sich gewandelt fand. Der Herr war aus dem Festspielhaus gekommen, hatte schwere Pein mit dem Laufen, war mit dem Lift auf die Felskanten über der Stadt heraufgefahren, hatte in dem Gartenrestaurant an der Kante etwas gegessen und getrunken, auf die Lichter der Stadt geschaut (unter ihm; die in Geheimnissen wiedergewesene Stadt), lächelte in fernes, gediegenes und wiedererlaubt samten Kaiserliches.
Und: Über die Felskante, worunter die Stadt eingesponnen ist, phantasierte ich zu springen; wäre so gewesen: Daß ich den Herrn als lachender Mensch gegrüßt hätte, die nur schritthohe hölzerne Absperrung des Restaurantgartens überschritten, und durch Efeu und Hopfenglück etwa zehn Meter steil gerannt wäre. Mit einem Jubelruf über die Kante, die, wenn August endet, Schrecken ist, gerufen: Vivat!
Mi., den 23.
Zwei Jungs trinken „Sturm“, neuen, gärenden Wein am Platz vor dem Stadtkino. Der eine ist blond, der andre schwarz oder besser: der eine österreichisch (besser: dinarisch), der andre k. u. k. Ich erkläre dem Blonden, an mir wäre das Priestertum Christi wiedermal gescheitert, was eine Widerlegung seiner Gottesnatur bedeute. Begabte Jungen, die ich ungezwungen laufen lasse. -- Mächte-Interregnum. Der Meister zahlt nicht mehr. -- Der Blonde war schön (unrein) und bereit, mit dem Unreinen gegangen zu sein (völlig korrekte Consecutio!), später bereit, so denken zu dürfen.
Geist der Zeit, der Wirklichkeit begehrt. Andere Zeit hat gegriffen.
Schreibe das Buch vom Ende meiner Gespenster; dem Anfang; Erscheinung im Gott-Wurf von Jugend, Richtern zeitverliebt unterworfen. Möchte jetzt und dann musizieren.
Um keines der Hochworte - mein Gewinst! - habe ich gelitten. Fügt mir nur die Angst etwas zu, über die nichts zu sagen wäre, als daß es die eine ist. Die Entleerung, die ich gewirkt habe, ist gelungen. Das war mein Streich. Ich gehe - das ist gesagt - an der Hand des berufenen Leichenbuben.
Er soll zurückkommen!
Do. den 24.
Ruf nach der Pflanznacht. Bis der Leib von Himmel und Erde läßt, noch Lieder und Geist-Herren; den Tötungen neuer Macht fallen sie nicht anheim; werden gegen den Weltwillen zur langen Nacht, dem Innengesetz Widerstand zugrundegehn. Dann: königlicher Friede.
Thomas Morus auf dem Richtblock: „Wenn sie auch berechtigt sind, meinen Kopf abzuschneiden, so sind sie nicht befugt, mir auch meinen Bart abzunehmen.“
Fr., den 25.
HELMGEDICHT, MORGENSTERN UND VRHUNAC
für Roman Tolj, der im Mai Geburtstag hat
1
Soll nichts Anderes sein,
wann Klares geschieht, kein,
kein Mond alter anderer Zeichen.
2
Der Hitlerjunge Hitler
schießt unter der Erde
in seinen einen Kopf.
3
In meinem Mai
glänzt der Krieg.
Opferung und Dopplung der Felder.
Betrete ich den Wald,
atmet mein toter Junge
Blut und Glas.
Trete ich heraus,
schenke ich ein Luftschiff den Toten,
den Kindern ein Boot.
Süßer Mundschaum
in der Witterung.
Aus lockender Stirn
greift Zarathustras
Abwelt Gegenrand.
4
Geifern sollen
die Toten
in all ihrer Pracht.
Gegenflut
mündet dem Kelch,
dem Anblick
Knochenhimmel
in den Mund.
Neue Nacht und alter Tag.
Von den Planken
steigen die Meerfahrer.
5
Alles ist jetzt gleich, sagt Roman.
Im Frühjahr werde ich den Kopf
des Mörders meines Freundes
meinem Vater geben und lachen.
Wie gut. Eines der Leiden
hatte ein Brandungsmaul rausgeschnappt.
Auf dem Podbrdo war der Schreiner fortgezogen
noch bevor er gewesen wäre. Adriatischer Wind
bezeugte der Wahrheit Kugel.
Maria beiseite, die Makedonierin, und der Kroate
Roman, dem in die Saiten flügelndes Chitin schellt.
Durch den Feldstaub dem Lied nach
und dem leeren, leblos freien Himmel:
Maria und Roman und ich
und die tanzenden Freunde
Serge und Emanuel.
6
Naht Leib der Zeit,
sticht den Stern ins Auge und zurück.
Die blaue Angst fließt aus:
Der schöne Morgenstern.
Omphalos!
Dem anderen Raum überhin,
den ich höre, dem ich selbst
der hübsche Blinde, gleisender
Hochebne Leib war.
Drachenkörper und Wind
sind dem Gedächtnis längst
leuchtend armes Flügelgeripp.
7
Grub in kammrige Wurzel
innen-endliche Öffnung,
schöpfte dem fleischigen Gott
einen Erdort, daß keiner
den goldnen Knochen mir raube.
8
Daß mein blaues Kind
im Mond Titan die Linie
zur klingenden Helix entgrenzt.
Ortlos währende Sicht
vom Saleph
gegen Delphi ins Nichts.
Ein Morgen.
Der Mittag.
Abend.
Wie den Ruhm heißen?
Steinsatz. Hallsonne.
Wegton bis in den Morgen,
Wegstaub und Blaumetall.
Nicht
Meer noch Himmel schließt
die Statur der Bewegung,
das Kreis-Außen.
Sa., den 26.
Regen. Sommerende. Wohne seit zwei Tagen bei dem Kirchenmusiker Vater in Reichenhall. Jeden Tag in Salzburg. Seit drei Wochen auf Fahrt. Gott hat die Wohnung verwüstet, verlassen. Und seinen mirgedachten Meister in der öden Ewigkeit.
In einer Torgasse perverses Geheul, reizt der Gott Kinder auf, erprobt Schwänze und Stumpfsinn seiner Altgeliebten ..... seine Todkraft ist langweilig! spreche ich dem Papier, dem Gott-Sohn: Hättest du Freiheit verwehrt, der Freude müde zu werden ..... immer noch langweilig!
Der Auswurf deiner Feinde riecht mir wie der Essig, den du verliebt gesoffen hast, gekreuzigter Feigling, wagst vor den Thronen deiner Kirche sabbernd zu kontraktieren: Zeitliche Dauer! Hast in der Opferung göttlichen Wesens zuviel Blut beigemischt, die Kindlein blindgemacht, ihnen deinen geilen Tod gelassen (wo sie seelendreckig geworfen lagen, hast du ihnen das Blutkreuz, hocherhabnes Mal der Hölle gezeigt). Im überlasteten Kinderverstand nochmals gekreuzigt, bist du aber nicht mehr auferstanden. -- Du hättest in die Himmel auffahren müssen aus ihren Augen (sie wären in der Spur ihres Blicks nach dir nachgefolgt).
Mozarts Requiem in St. Marien gehört. Mit Toten gesprochen, Tote laufen sehn (aber Christ hatte das anders gemeint; zuerst hätte der Tod gespürt werden müssen). -- Dem Organisten Vater die Notenblätter gewendet. Raunvolk. Japaner, Spanier, Holländer, Amerikaner. Vor den Kirchenpforten Krüppel, die anderes verlangen als vor hundert Jahren (oder tausend) die Siechen: kältestes Indiz eines Vergeblichen. Muß nicht gesprochen sein, was ist.
Ich nehme heuer Abschied. Hatte einen Traum: Steche einem dunklen Knaben ein Kreuzbajonett (drehen!) dreimal ins Herz.
Sehe bei Tag nachts in zweiter Sequenz auf schwarzer Wand ein kalkweißes Kreuz. In dritter, vor einem Fenster, eine Mann-Bestie, die mich sucht, an Angstwunden leckt (gottlose Weidung; süßes Gewein). Spricht: Dich suche ich!
In der Nacht, wenn Neues kommt, bin ich Träumer, habe nichts vom alten Kleid an mir, das die Toren wärmte, gehe in neuen Kostümen, frischer Wäsche, lache neuesten Buben Glasperlen aus dem Königreich zu. -- Götter werfen keine Schatten. Ich laufe hin und her durchs leere Reich, Spinne ohne Ritze, urzeitliches Insekt ohne Hydrotop.
Salzburger Gaststatt der Jugend. War hier jede Nacht. Schäme mich, die entleerten Schönen zu begehren. Ein Jammer: Gucke blau aus blaufränkischem Quantum und die Buben verschweben ungerichtet im Säuferblick. Morgen: Wäsche-Wechsel. Da werde ich Gott loben. Frisch und neu. Amen.
Mo., den 28.
In die Pension Adlerhof eingemietet. In den Nächten Suche nach Etwas. Temperatursturz. Dauerregen. Erkläre mir den zuendegekommenen Sommer. Muß wissen, daß die Fahrt reich war. Muß morgen endlich weiter. Denn sonst betrinke ich mich jede Nacht und meine, der Wildortwechsel wäre vergebens gewesen.
Ich betrinke mich jede Nacht. Alle Nester, wo sie sind, habe ich entdeckt. Sind bei Regen wie fortgenommen von der Welt (bis ins Frühjahr). Würstlbude an der Salzach, Stadtkino, am Brunnen -:- nieverlorene Fahrt.
Zum Gebrauch der Tarnkappe: Den Roman der Nahtstelle zur Wirklichkeit, dem vorhergestifteten Gesetz, uns einzuzeugen, findet gesprochen nicht Ort; wird Ortsloses zersetzen. Den weichen Verstand (Herz-Erweichung).
Im Wilden Mann mit einer Familie aus Yorkshire gesprochen. Der kleine Junge ist boy-scout, seine Schwester schenkt mir bunte Salzkristalle aus Hallein. Vater und Mutter mögen mich sehr, zu unrecht. Ganz reizend, wie der kleine Brite engagiert meint, but Germans started first World-War! und auf meine gewiß friedvollste Verneinung seiner nicht unhöflichen These errötet und oh! sorry! sagt.
Sitzt an meinem Tisch ein einfacher Mann, der ein Buch liest, ein literarisches, wie ich annehme. Damengelächter und die roten Gesichter von Lobosch und Hridlicka. Heimisches. Muß mich nicht rühmen. Finde die Orte immer bald. Die hiesige Hölle ist milde gedämpft. -- War in den Bergen mit einer kroatischen Familie gefahren (die Kroaten eroberten dieser Tage ihre Länder zurück). Wieder war mir gelungen, den kleinen Sohn mit meinem prächtig bunten Lügengewand zu trösten. Sinke mit jeder Verzauberung tiefer in Tantchens Nadelkissen ein. Bin so klein. Trete aus dem Bund zurück (was Knaben schwerfällt, Männern nur nachts zwischen 1 und 3 im Hochsommer Ostpreußens, dachaugedenkend, am Tisch der Urgroßmutter möglich ist). Bin der selbstbezauberte Hexenmeister. -- Der Koch sitzt in weißer Montur am Stammtisch, vor dem Ofen. Bedenklichste Gemütlichkeit. Das Holz der Tische glänzt! als würde gleich: ein wunderbares Männlein um die Hirschgebeine spielen, der Kaiser eintreten, das Steingut springen, die Nacht eintreten.
-- Sitze rechts der Salzach als einziger Gast eines Etablissements. Französische Chansons. Vorher hatte ich in einem andern Lokal einen Jungen vom Nachbartisch her anschaun dürfen, dessen Vater und Mutter ich gerne gewesen wäre; heimlichster Wunsch: Ihm abends eine Kanne Wasser und einen Laib Brot ans Bett zu bringen.
Eine videoaufgezeichnete Josefine Baker auf zwei Bildschirmen; die in ihrer Schönheit unzugeordnete Form singt vor hochbereiteten Pappsäulen, Arkanthuswerk, Lichtern. Sehnsucht nach einer Art Reichtums, den ich mit 13/14 sehnte, derart ins Herz gebunden, daß ich mich jetzt nur verwundere, daß es Josefine Baker vor Kulissen sein muß, die mich an den Huren-Straßen-Schatz erinnert.
September II
Sa., den 2. -- Intermezzo --
Nachdem ich noch einige Nächte in die Pension Adlerhof gefunden und es immer nur deswegen hatte, weil ich wußte, ein Aufbruch in der Frühe, um rechtzeitig irgendwo in einem Abend anzukommen, würde unmöglich sein, nachdem ich noch einigemal den blonden Gerald getroffen und an einem Abend für 12000 Schilling Champagner getrunken, ihm Liebe gelobt - auch Gerald - und mit einem siebzigjährigen Millionär gefeiert hatte (deswegen die 12000), der mir mit Horridoh! riet, Gerald und die Stadt schleunigst zu verlassen, stieg ich als Baron Johannes von Greiffenclau in den Zug und fuhr in die Hölle.
1
Die Hölle war ein abgedunkeltes Zimmer, dessen Klimat während meines Aufenthaltes draußen den Vollzug des Herbstes fürchten ließ. Also der Schmerz, versucht zu sein, beim Verlassen feuchter Dunkelheit draußen jubelnden Mai zu erwarten. Jubelnder Mai, wegen der Dunkelheit.
In der Hölle war ich ein Haus, das das gute, das große hieß, war dessen einzig gestatteter Bewohner, war aber auch das Große und Gute selbst. Ich war jedes Zimmer und war Mensch, bisweilen nur Organ; Herz, Magen, Auge; alles was ich war, war ich im All-Raum allein. Eine Musik. Ich formulierte: ein Eines, ein Ganzes, ein Geteiltes.
Im Durchwachen endete Ein-und-Alles, trat Angst ein, obwohl Traum das ganze Haus meines Vaters war; trat aus mir einer auf, ein Junge, in jeder Weise schön, lief im Dunkel entlang einer Wand. Verliebte mich in alle seine Glieder und Organe. Lange Zeit lebte ich in seinem Mund.
Hielt der Junge vor einem monolithischen Gefüge. Mit weißer Kalksfarbe war darauf ein mannshohes, lateinisches Kreuz gezeichnet. Daran nahm er die Formgestalt eines Gekreuzigten an.
Aus heller Wand, in weiter Sicht, floß Goldglas, Innenmusik ins Außengehör.
Dieser Junge hatte mich nie zuvor gesehn; weswegen er mich haßte, mein innegewolltes Kind war. Sein Gesicht wurde rot und hatte Macht. Eine kindlich lange, unabsehbare Zeit beleidigte er mich, sagte: Du stirbst nicht! Du leidest!
Wie ich weinte, bemerkte ich Täuschung: Ein kräftiger, bäurischer Mensch drang mit einem Messer in mein Herz. Ich spürte wenig, wußte mit dem Augenblick, vor dem Ende der Zeit nicht im Leben, nicht im Tod zu sein.
2
Unter den ottonischen Türmen eines Doms spielen acht Blechorchester den Erherzog-Albrecht-Marsch. Das Volk jubelt und bekommt ihn ein zweites mal. Dann der Coburger. Eines gewissen Deisenroth einfallsreiches Stück, im 16. Jhd. fern Maß genommen, fällt im Applaus durch. -- Die Jungs dieser Stadt haben nächstentags Schule und ich begnüge mich mit einer Fahrtbilanz: Ich ziehe am Ende - also vermutlich November - nach Wien und werde in die Kronenzeitung eine Annonce etwa wie folgt setzen.
Junger deutscher Autor bietet Dienst an, distanzierte Liebesbriefe zu verfassen. Nicht mangels Einkommens, sondern vergnügens der Übung. Erfolgsgewöhnt aus Deutschland und Schweiz, versichere ich Wienern zwischen 14 und unendlich jungen Alters bis in die 100 wundersamste Erfolge. Bedingung: Eine Vorstellung der geliebten Person im persönlichen Gespräch. Man trifft den Autor in einem vereinbarten Café der innerstädtischen Distrikte und hat Zeit. Mein Stundenhonorar i.d.R.: 70 ÖS + 4 Viertel Roten. Dann erhebe ich noch ein Honorar bei Erfolgsmitteilung: Eine Flasche Sekt, aber nicht über 100.
Mit Todesverachtung begebe ich mich vom Tresen hin zu der Ferne zweier dawositzender Buben (eine ¼ Stunde Kampf) und erschöpft angekommen, wechseln die Buben zufälligerweise an den Tresen. Zufällig an den Tresen wieder zu wechseln, muß ich zwei Rote trinken. Das alles ist sehr seltsam. An den Tresen zurückgekehrt, hat sich eine Traube Blödheit leiblich versammelt (um die Buben herum). Erwäge, was ich als verdummter Lehrer meinen Schülern zu überliefern hätte.
Schlug mir Habsburgs tote Macht im (birkenbestandnen) Ruinenhof gegen die Stirn, ins Auge. Dessen Iris ich mir dort anders als braun und dunkel gewünscht hätte -:- wie eine Aussparung Gewölks blau -:- Die Krone, über ihre Macht hinaus, wies zuletzt auf die Nicht-Endgültigkeit des Staats, Regentschaft jenseitig leeren Reichs. Ging deshalb verloren. -- Sechszehnjähriger italienischer Deutsch-Gymnasiast neben mir sagt: Die alte Zeit stell ich mir wie die Hölle vor. Er ist Triester. Ich sage: Hölle und Himmel haben gestritten. Beide sind vernichtet.
3
Zweiter Mond meiner Fahrt. Zum vierten will ich den Montségur sehn, die Lichtfurt durchlaufen, besoffen ins Lichtland meines Südens. Bin ein bescheidenes Kind. Das reizt Mächte auf, löckt wider die Gewaltherrschaft der Eisenfürsten. Alle Heiligen sind Kinder.
Die jungen Toten, im ersten Zustand zeitlosen Gleichmuts, dem der Entwöhnung, der transzendenten Beweger, deren Einen - Geheimnis der Bosheit - ich dort unten als mein nächtlich versilbert Richtmaß erwarte. Mir fehlte zu dieser Solopartie der Helden-Sinn, hätte das verschrobne Kind die Gegenstände der Übernatur, Überschreiten der Grenzen natürlicher Physik für nicht wunderbarer gehalten als beispielsweise Würzgeruch von Kaffee am Morgen (Erlebtes war weniger lustvoll zu greifen als vorhererlebt Gedachtes). Noch längst nicht in südlichen Schluchten verfangen, fängt mich über den Tausendkilometer Echo im Traum, wirft mich auf den Gipfel des Ségurs.
Mag hier schon in höllischen Vorstädten nicht arbeiten. Um so länger das bis zum Tod dauert, desto exacter messe ich an der Dauer meinen Beruf, finde, daß Felix nicht Steigbügelhalter des wattigen Esels Jesu, nicht höllischer Gehilfe ist. Humoreske Konversation mit Tod-Mächten; das ist alles. Oft sind um ein Einzelnes 2 und 3, 3 und 4 gerettet. Zum Ende retten sich Kinder die Gnade selbst, sagt man. --
Anzunehmen, daß einige Leiber und Seelen am Lebendigen bloß graduell Anteil haben. Weshalb das Reinigungsfeuer, das nach Aquin ebenso wie die Hölle für den Leib einen Ort braucht, nicht hier, im Haus gezeugter Schönheit sein sollte, die der Pönitent schauen muß, ohne angeschaut zu werden? Sichtbarkeit der Dinge ist Ausnahmefall (drum habe ich schwer zu beweisenden Umgang mit Geistern; nach dem Unbeweglichkeitsgesetz der Leiden allerdings nicht).
Sa., den 9.
Weiter auf Fahrt. Die Fahnen zerrissen. Höchste Gefahr. Im Zug von Bebra auf Göttingen heiterer Zwischenfall mit vier Zigeunermädchen; der Ältesten, reiz-vielfältigsten, fehlten einige Zähne, die Jüngste, reiz-einfachste, hätte ich im Schlaf gerne als wilde Gespielin eines jungen Bruders gesehn. Sie waren alle garstig vulgär. Ich hörte: „Oh! oh! meinä Fotzä!“ In ihrem Schmuck, ihrer Herrlichkeit (wieder eine Erscheinung nach Außerhalb der Welt) wollte ich mit ihnen gelagert haben. Am wenigsten mit der mittleren, die sagte: „Du hast schöne Augen! Aber sonst gefällt mir nichts an dir.“
Die Sonne hinter Bad Karlshafen: Schöne Orange in der Dämmerung. Du! komm, spiel mit mir! dann leck mir die Augen aus ..... O ich! Wem sonst war Traurigkeit am Recht gemessen, niederzusinken an sich selbst? Zarte, rostige Viadukte. An der Weser lungern Kühe und andre Witze (kleine Jungs). Durch den büscheverwesten Korpus einer toten Fabrik, durch ein unzerschlagenes Fenster leuchtet die Orange im Flug.
Traurig vergnügte Eselei zwischen Altenbeken und Hamm. Am Bahnsteig zwei schöne Feuerwerksknaben aus Lippstadt entdeckt, Rucksackgewichte überprüft. Im Abteil Kinderzirkus mit Dompteur für die Mitreisenden. Ein hellblonder Deutscher und ein spanischer Deutscher. Der Blonde erklärt mir unaufgefordert, daß seine Frisur heute nicht in Ordnung wäre, sonst sei er „doppelgescheitelt“, nicht „mittelgescheitelt“. Verstanden habe ich das nicht, doch ausgenutzt und Haarsträhnen auf Qualität geprüft.
Letzte Sequenz aus Robert Hugh Bensons Roman, Der Herr der Welt,: „Und abermals: Procedenti ab utroque / compar sit laudatio ... Und dann versank die Welt und all ihre Herrlichkeit.“
So., den 10.
Münster. -- Elendsstadt. -- Bei einem Trio des dreizehnjährigen Korngold vor dem Radio. Auch die Musik beweist seit je das Elend ihrer Welt. Leidlosigkeit spricht und singt nicht. Nur Glück und Unglück.
Kurz vor dem Dunkelwerden entwächst dem Himmelsteppich eine blaue Rose. Am Tag durch die getötete Stadt gelaufen (hindurchgehn kann man gar nicht).
Unterschied: Während meine Freunde das Innerste und Herz besprechen, trete ich ein. Wir lernen es alle. Zeit ist nichts. Einem geschieht das Lächeln nachts in der Gosse unterm neugewordnen Quittenbaum, im Blick, einer anderer, zwölfjährig, lehrte im Tempel und hatte nichts sonst, ist später gerechterweise geschächtet worden.
-- Ich kehre ins Buch ein. Meine Krankheit betört mich, Blume meines Eisengartens, meine. Wunder meiner keuschen Wirklichkeit.
Ich schreibe das Buch für Cunctors Söhne: Wirkliche Länderkarte, den wunderbaren Montségur zu schauen, durch der Karte Weisung hindurchzutreten, die Sterne zu finden, und vergessen zu sein.
Mi., den 13.
Analog: habe verloren. Kann nicht schreiben. Da fällt mir ein: hatte noch nicht eines gewonnen -- Schreiben, in dem selbstgesetzten Größen-Maßstab, das habe ich nie gekonnt. Auch das noch.
Draußen wird es täglich dunkler (ich schreibe nicht: die Tage werden kürzer). Ich warte hinter dem Fenster auf Marie, wie jedes Jahr, die nicht kommt. -- Eine gute, fertige Geschichte. Folgte ich der Wirklichkeit meiner Fahrt, müßte ich so weitertun: warten, schreiben, was ich höre.
Auf einem höllischen Marktplatz im Wind: will den Fremden keine Angst machen, mit meiner Liebe nicht ins Auge sehn (jeder hat seine eigne Heimat).
Do., den 14.
1
Ich würde sagen, ich freue mich auf einen neuen Herbst wie auf den neuen Wein. Beeren aus dem Wingert, gekellert in meinem Haus.
Ich würde sagen, ich freue mich auf eine herbstliche Liebe wie auf die Liebe vor der ersten. Man sieht sich entgegen in den Jungen; der Junge voraus. Ich freue mich auf mein büchliches Ende.
Schon auf niederen Höhen, Waldränder eingezählt, stimme ich mich öfter als zu Fahrtbeginn festlich. Weil mir im Auge Kenntnis über den Fahrtlauf gerät, sind jetzt die ersten Dinge fertiggeworden, die mir einzig gehören. So habe ich alle paar Tage für Stunden einen ichgelösten, fraglosen Leib und klar-geeigneten Verstand. -- Das macht, es hat die Hölle ....
Das macht, es hat die Nachtigall
die ganze Nacht gesungen;
da sind von ihrem süßen Schall,
da sind in Hall und Widerhall
die Rosen aufgesprungen.
2
Wer von Wort Dauer fügt, schaut DER öden Grenzmauer bald-lebendige Schönheit und billigpapiernen Sprachtod. Was späterhin (bei Knaben) im schönen deutschen Winterkopf entsteht - Leidkörperwerk, LEIDAUSWIRKUNG - liegt wohl in der lachenden, oft (und immer) lächerlichen Mund-Billigung einer Männer- oder Frauenstunde beschlossen.
-- Sonnenuhr, Turmuhr, die das Kind begriffslos schaut; eine Armbanduhr, die dem Knaben zur Konfirmation geschenkt ist und die in den Fluß geworfen wird, ziellos ohne Damit und damit Dahinter wäre; dann auch Lehrlinge und Studenten, die nichts und nichtmal sich selbst werfen. --
Ich fiebre auf ein neues Buch. Ich schreibe dieses, das alte, im Fieber. In den guten Stunden leuchten mir die papiernen, für die ich wage, den Fahrtbericht statt eines Zwei-Wegs (Hans+Felix) vor die wenigen Seiten der Ségurschrift zu stellen.
Werde in Montpellier den Jungen Hans treffen (so wie ich ihn in Neuss am Rhein getroffen habe). Wenn nicht in Montpellier, dann in der Abtei Le Barroux. Wie ich von Versetzungen in die Provençe als Knabe von fünf und sieben und zehn und zwölf weiß, schneiden die Zikaden ihr Glasgehölz bis in den Winter. Und so .... -- daß ich Hans, der gestorben ist, dort erwarte, verlangt nichts als die billige Mühe eines Strichs auf Papier.
So., den 17.
Das Wunder. Heute fahre ich nach Frankreich.
Fahrtformel: Ich-Zerstörung im Mythos (und Trauer), entfesselt Liebe hassen: Rettung der kleineren Götter. Zerstörung eines Idylls im Idyll.
Verwegen. Den Dummen dumm.
Einen dummen lieben Jungen suchen.
Mich wiederfinden (ich lächle).
Gestern gegen 3 eröffnete mir der 14-jährige Bahnhofsdichter Johannes, das Süß-Arschloch, er (und es) wünsche, sich (allein) vor den einfahrenden ICE zu legen. Folgendes Gedicht, uns über Dosenbier lächelnd zu machen, hatte ich ihm ängstlich ins Tagebuch notiert:
Meistern gelten tote Schüler
für leuchtende Laternen / vor der Tür
am Waldweg nachts.
Sie begegnen sich selbst
in der Farbe / ihrer Hand
gehört der zerissne Fuchs.
Durchbellt die ganze Nacht
LATERNE / blau und gerne
äße ich mit Lämmern.
Gebüsche unsrer
Köpfe, die dein sind,
wenn du mir ausfährst
zur Nacht der langen Tage
in ALTEN GEDICHTEN.
Di., den 19.
Um 6 Uhr früh aufgestanden, habe gesungen, geduscht, bin ausgegangen, habe Kaffee getrunken und französisch Bier bestellt; nicht wie noch gestern deutsche Steine, pierres. Akkommodiert sich die Leere dem näheren Herz-Süden erstaunlich rasch.
Nach fürchterlicher Fahrt in einem zweckverwandelten Krankenwagen von Königswinter nach Montpellier, in Gesellschaft weltbereister, individuierter Deutscher (nichts schlimmeres auf der Alten, herzkränkeres), war ich im ersten Licht angekommen, mittags zu Bett gestürzt, bubkrank liegengeblieben.
Dann von Gewittern hinter offener Balkontür, Bauschfiguren der Gardine zu sanfter Traumtäuschung angeregt, hatte ich abends um neun geglaubt, es sei schon neuer nächster Tag und den Wecker - gut gegen mich und zeitentfernt - auf zwölf im vermeintlichen Mittag gestellt.
Saß verwundert um Mitternacht am Tisch, hatte zwei Seiten der Ségur-Schrift begonnen, einen halben Liter Rotwein getrunken, die Schrift gestrichen, die Kerze gelöscht.
Bin in meinem Süden aufgestanden. Am Himmel ist vom Meer her das in meiner Kinderzeit gesehene afrikanische Grau zerrissen, das der Trommler und Legionäre. Ich werde zum Coiffeur gehn.
Die Fremde -:- innen unfern, distanzlos zum Herzen der Wirklichkeit; von Jahrbildern der Erfahrung bis an die Ränder überwachsen. Der ins Freie wankenden Freiheit des Selbst, der Mitte, des: Ich bin und beiße meine erdigen Nüsse, atme Luft, trinke die Elemente, wenn ich zu den Fremden spreche, ihre Haare lobe oder gewisse Minuten mit denen sie verschuldet sind.
Daß das Leben Geld kostet, ist bedauerlich. Sollte besser nicht leben. Oder Nüsse beißen, erst Walnüsse, Haseln, nuces tabernaculi, dann goldene. --
Der Süden: Hatte nach dem Coiffeur am Nachmittag schuldlos, nämlich leidenschaftslos eine Kirche betreten, kniend um nichts gebeten, in der Art als ob ich nicht betete, und da sprach sich Glück aus ins Freie: Tu es, spero in te, non confundar.
Mi., den 20.
Gestern abend beim Aquädukt die ersten drei Bilder der Ségurschrift begonnen. Heute durch Regen geirrt. Im Bett gelegen und versucht, ein junges Gesicht zu imaginieren. Dann in der Sonne auf dem Balkon den Gott der rostenden Balkone angeschaut.
Gestern ist mir einer (14?) gefolgt, dem ich weigerte, ein pièce abzukaufen. Blondes Romanengesicht. Krankheit oder Gefahr hinter den Augen (in leeren Häusern lungern .....). Im Jardin des Plantes Eis und Bier spendiert.
Nachmittags also wieder im Jardin.
Weiß keine Orte. Weg wäre Weg-Ort? Werde einmal halten müssen. Wenn Cunctors Dämonenleib dann nicht in Spiegeln klar zu sehen ist, soll Tod ihn gekrümmt rückwärts schlingen! in Embryonengestalt, vertrocknet, in Erde zurück.
Ruhm des Bösen: geduldete Spanne zwischen Tod und Sterben.
Montpellier ist verhurt. Bunte Leute. Europas Krankheit ist bunt. Werde morgen ich ins Languedoc oder ans Meer fahren. Jean, der dealende Junge, will den Montségur sehn. Wenn ich fahre, soll ich ihn mitnehmen. Er wäre immer da. Wo da? habe ich gefragt. In Montpellier.
Do., den 21.
In St. Pons-de-Thomières mit dem Bus angekommen. Der Ort ist schön. Ausgesucht nach der Topographie auf der Michelinkarte. Damit das Papier wächst, werde ich auf Buschberge steigen und durch Steindörfer laufen. In dieser literarischen Unternehmung bin ich mein Claqueur, und deutsch: mein Verehrer. Wer außer mir, und jenseits der Monotopathie, trennt seine Tage vom Leben als Konstrukt? zwecks gefälliger Darstellung?
-- Und wie geht das im Café de L´Europe? -- Eine dicke Alte jagt die adoleszenten Jungs durchs Lokal und hat sie einen gefangen, wirfst sie dem ihren roten Schal um den Hals, tanzt den armen Jung, unterm Geklatsch der Gäste, am roten Gängelband rhythmisch nieder. Nicht nur. Wirklich tanzt der Erwählte. Volkstheater. Und die Alte hat keinen üblen Geschmack. Ihr Allerliebster ist der allerschönste, mädchenhafte Mensch. Unanfechtbar. War doch in Montpellier jede Nacht auf Bubenschau; und nur selten finde ich Romanen hübsch; und bin noch nüchtern.
-- Jean kommt morgen. Kostet es 86 Franken für den Bus und fürs Hotelzimmer 30 extra. Woran man sieht (und wer ist man denn privat?), daß mein Geschäft diesmal Literatur ist. Fürs Papier werde ich ihn lieben.
Fr., den 22.
Die Wahl von St. Pons war gut. Ein unspektakulärer, von Touristen gemiedener Ort. Durchs neue jahrhundertwendische Zentrum rollt auf der Hauptstraße der Schwerlastverkehr (unter meinem Fenster). Brückenstadt im Tälerschnittpunkt. Alte Steinquartiere liegen jenseits von Straße und Fluß. Streicht das Laub in Spiralwirbeln und Haufen übern Platz, genug, um mit Papier in der Hand zu traben.
Ich hatte gezweifelt -:- Jean ist hier (mein Junge). Eine Pein, dem untertänigsten Wirt Verhältnisse zu klären. Wegen des Zivilabzeichens auf meiner Jacke, des mit der Lilie belegten Ritterkreuzes von Malta, hat er wohl gemeint, meinte ich, ich wäre was Erlesenes. Nun steckt der Bube noch immer in den Stinkestoffen seiner feuchten, dortigen Löcher (müßts ihm nicht peinlich sein, würde der Ritter geil darob).
Die Finanzen schnürn mir den Lebehals zu: Lade ihn auf die Terrasse beim Tour de la Gascagne auf Rotwein und Wickelcigaretten ins Gras. Sein anglofranzösisches Geschwätz ist keinerweise americaine; einige Imitate, nicht in der Perfektion der Deutschjungs seines Alters. -- Was soll ich anfangen?
In der Kathedrale war am Abend ein Konzert gegeben. D´Albert, Mendelsohn-Bartholdy, Mozart. Seltsame Folge. Von D´Albert etwas für Streicher, Horn und Fagott. Schwereloser Traum. Dann Mendelsohn-Bartholdy -:- Deutschland.
Hatte bisher geglaubt, das gefällige Werk des dunkeläugigen Judenknabens habe betulich damaliger Salon-Empfindung entsprochen. Erster Satz der 12. Kammersymphonie: Erschreckend bewegtes Entgleiten; in der Form gemeisterte Psychose. Der Mittelsatz unentschiedne Beruhigung; im Schlußsatz sind abgleitende Motive des ersten wiederaufgenommen. Man weiß nicht, ob ins Glück oder unentschieden. Drohung bis in die letzten Takte. Die fassen einen kranken Diskant wieder an und nach dem letzten, in der Innenmusik, lebt der alte starke Tod ganz jung. -- Klatscht das Publikum und Mozarts 40ste folgt. So hätte sichs gehört: Mozart - D´Albert - Mendelsohn-Bartholdy.
-- Ich fürchte, Jean glaubt, ich könnte seinen Bub-Leib begehren und er hätte was zu gewinnen. Hier, in den Bergen, ist nichts zu gewinnen. Da tut er mir leid. Will Papiernes aus ihm machen. Hab ihn aufs Tablett bestellt. Wird im Bett liegen, wenn ich genug Wein habe, aufs Zimmer schleiche. Bin etwas ängstlich. Nichts spricht gegen Messerstiche. Die stünden meinem Fleisch gut. Der Wirt sagt, daß er den Buben, während ich im Konzert war, hatte rauswerfen wollen. Ich erfahre nicht, was er getan hat. Die Permission, während meiner Abwesenheit auf Rechnung zu trinken, war nicht klug.
Sa., den 23.
Ich verkomme, werde fett. Leiste mir kaum Brot oder Käse. Rotwein schändet Gedärm. Versitze die Zeit im Freien. In zugigen Cafés. Meine Haut wird unrein, schält sich (sich). Bin normativer Handlung entledigt. Wollte in die Berge, dem Menschen-Feind da oben in die Fotze küssen. -- Im Hotelzimmer geht´s besser.
Mein findiges Buch: keine der Seiten lebendig gelassen. Ich áufheule als (und) wie ein Hund. Bin Schriftsteller. Sagte vor Tagen beim Aufbruch: Uns Kindern geschehen Wunder.
Wunderbarer Duft der Holzfeuer zieht durchs Fenster. Sehe durch Kastanien den Fluß Jaur. -- Grund, die Götter anzugreifen: Reichgefüllte Kammern, Milch und Blut, wovon sie Knechte wissen lassen, schenken sie nicht. Erst nach dem Götterfraß die Reste.
Die Ségurschrift: Völliges Scheitern. Was ich wollte -:- War mit dem letzten Satzpunkt gestorben, hoffend, der kleine (winzigklein) Gekauerte am Totenbett verstünde Edelsinn wie Schwachsinn.
Verfüge über knapp 300 Franken. Telegraphische Anweisung aus Deutschland frühestens Montag. Im Hotel drei Nächte überfällig, fünf weitere gebucht. Jean kam mit einem 50-Franken-Schein. -- Grüß Gott! hat mich sehr gefreut!
Wir sehen uns kaum. Sein Rückengepäck inspiziert -:- Mir hat gegraust! Das Geschöpf lagert Wäsche wie Wein. Also wusch (mit Seife, Tubenwaschmittel nicht finanzierbar) Zarathustra.
Warte an der Hotelbar auf ein Ferngespräch. ER sitzt im Café de France, wo er städtische, ausgehaltne Attraktion ist. -- Du bist der Junge, für den ich opfere. Sowohl erfinde als auch opfere.
Vergißt Cunctor einmal die Reichtums-Lust, das Eine und Nicht-Andere, dann vergesse sich Welt! Meine Ehre: Tod zu verteidigen. Solange der reitet, ist mein Leben prall und freundlich.
Zeitwaffe: Stunden als stundenbegriffene Gnade: spitz!
So., den 24.
Habe für heute die Ségurschrift mit dem Satz geschlossen: Das Glück war aber immer wie Ausflug - komm, wir gehen wohin! - unter dem schwarzen Himmel, in dem das Feuerwerk nachher nur wie ein einziger leuchtender Punkt zu denken ist.
Für den entfernten Freund, den meine Fahrtroute abenteuerlich lockt: Hier ist nichts andres zu finden als dort. -- Mich lockt der Zauber -:- Allee am Jaurfluß. Gewirr der Insekten. Die anderen Gänge morgens, statt Schwarzbrot Weißbrot. Das theatralische Gesing der Sprache.
[Das Christen-Wort, im Tod sei Leben, ist furchtbar (daß die Kirche die Schlüssel verwahrt: eine Schande. Raffinement von Hoffnung! -- Wie ich die Kirchendemokraten hasse! unbarmherzige Schlächter geistlicher Hoffnung. Rotbackige Spießgesellen ihres elektrischen Zeitalters. Die ekstatisch lehrende, römische Kirche hat ihnen nichts entgegenzusetzen! Man könnte heilig werden vor lauter Sinn und Stumpf!]
Der Tag hat sich ausgesprochen. Ich trinke den Wein.
Mo., den 25. -- mein Geburtstag --
Temperatur ist rechtzeitig gefallen, Luft mineralisch durchwürzt. Himmel um einen Ton blauer, wirft helle Netze im hohen Fenster und vergrößert den Raum. Auf Plätzen ist Alleinsein wieder untadelig.
Ich bin ganz allein. Nichtmal die Sterne streifen mich. Ich verfluche Gott am Abend. Das ist mein Abendbrot. Dann bin ich umlauert von Tieren. Meine Freude: Gott ist ganz allein.
Di., den 26.
Der Franzbengel schläft. Strahlender Tag, kein Geld, kein verpflichtendes Ereignis außer dem Vorgang der üblichen Dinge. Würde Gedichte schreiben, den Dingen Marsch und Walzer blasen, vorangehn, wäre ich Knabe.
Sitze am schwarzen Marmortisch (spiegelt den Himmel schwarz), leiste mir Milchkaffee auf Rechnung. Heute werden wir auf Berge steigen. Habe Trompeten und Flügelhörner gehört.
-- Waren in den Bergen bis Marthomis. Auf einem Hügel - aus Tälern geworfener Granit - Felsen im leuchtend gelben Jahrhundertmantel der Flechten; habe den schönsten feierlich umarmt, ein Lied gesungen auf ritterlicher Fahrt -:- weiß nun, wie man sehr schön singt. Jean hatte lachende, fragende Augen. Gewitter zog auf und Berge greinten.
Mi., den 27.
Saß heute sieben Stunden im Hain über dem Friedhof, habe mich in den Sekunden gehaßt.
Do., den 28.
Gestern vom Le Somail ins Croix Blanche umgezogen. Ein steiler alter Kasten. Legendenhaus. Vom Fenster weiter Blick in die Berge und auf das romanische Monstrum der Kathedrale. Die Abwehrdämonen glotzen vom Turm her aufs Bett. Ich vegetiere. Weiterreise nach dem Montségur sobald als möglich.
Jean mit Gewalt (und letzten Franken) in den Bus nach Montpellier gezwungen. Wird mich nach Jahren zurückzwingen (in exakt denselben Morgen). Er glaubt, sein Freund wäre ich, sein Wunder. Vielleicht.
Fr., den 29.
Ganz selten, daß das Leben wieder gut ist. Am besten noch im Speiseraum. Ich komme stets spät, kurz vor zwei, um für mich zu sein. Dann esse ich. Auf den Tischen halbvolle Rotweinkrüge und Wasserflaschen. Werde Fenchelsalat auf Walnuß essen, Käseomelette, Lamm und Gemüse, Cognac trinken, Wein, dann dem Fenster Cigarillos verehrn und -:- Cognac.
-- Heutnachmittag hat mir ein fünfzehnjähriger Knabe, Thomas, der kaum Englisch spricht und bisher zu wissen glaubte, daß „ja“ im Deutschen „merci“ bedeute (grausig amüsanter Irrtum), im Café de France außerordentlich bedeutsame Kenntnisse französischer Grammatik vermittelt. Sehr bedeutsam ist auch die Zahnspange, die dem Burschen das Lächeln versilbert. Er ist sehr brav, fragt mich im temperierten Herbst: „Do you like swimming?“ „Sure, I love it, but Jaur trés petite!“ Da lacht er. -- Wenn er morgen von der Nachmittagsschule kommt, will er mir seine Unterrichtsbücher zeigen. Soviel wollte ich wissen? Der Knabe hat eine freundliche, weißhaarige Mutter, sie ist, wie er sagt, der „Greengrocer“. So ein altertümliches Wort. Beim Greengrocer hatte ich Rebhuhnpasteten, Knoblauch, Tomaten und Wein gekauft. Da stand der Bursche bei der Mutter an der Waage und es ergab sich.
In den Bergen hatte ich Jacke und Tabaksbeutel auf bequeme Steine gelegt. Aus Ginster und Unfug zurück, mußten wir spielen: Kurze erste Sätze.
Später war der Tabaksbeutel verschwunden. Wir Raucher suchten leidend. Ein Tier, meinte Jean, hat ihn geholt. Dem pflichtete ich bei. Wegen der Süßigkeit des davon überzeugten. Jetzt spielt er wieder mit den Ratten.
War gestern aufgestiegen und weitersuchen. Auf den bequemen Steinen lag der Tabaksbeutel unter einem Ast, der geschnitten war. Im Spleiß klemmten Feuerzeug und Cigarettenpapier -:- Süd-Geheimnisse.
Habe mit dem Messer geschrieben: Komm!
Gepreßtes Gewärff.
Manchmal wird einem warm. Man kann auch nicht immer rauchen.
Oktober III
Di., den 3.
Ich habe geschrieben, nicht gelebt. Ob meine Kriegsart Freude macht? Gespielt40 jedenfalls habe ich nicht schlecht. -- Die Stelle im Unterholz, wo die restlichen Bildtafeln verscharrt sind, ist mir bekannt.
Vorgestern war ich Monsieur Klaus begegnet, einem brutalen Bayreuther, der sich in den Bergen über St. Pons eingegraben hat. Nach der ersten Begegnung hatte ich ihn aufs Hotelzimmer mitgenommen und nachts um zwei Todesangst gelitten. Er hat Silber im Überfluß. In meiner besoffnen Phantasie glaubte ich auch, er wäre Chef (war er gewesen). Ihm zu imponieren, hab ich gesagt: „Gib mir eine Chance! Vielleicht bin ich der, den du lang gesucht hast. Gib mir ne Knarre! Ich leg dir deine Frau um oder wen du willst. Nur die Kohle muß stimmen.“ -- Hat ein Messer gezogen und 20000 Franken aufs Bett geworfen: „Gut! Bring mich um! Hier ist die Waffe!“
Monsieur Klaus hat einen halben Liter Rotwein auf ex getrunken und ich habe nichts getan. Hat mich dann am Kragen gepackt: „Feigling! Du bist ein Feigling! niemals könntest du jemanden umbringen! Hier: Das Messer! Stich zu!“ -- Er ist ein starker Mann. Hat mich in der Nacht gelehrt, daß ich feige bin.
Monsieur Klaus ist ein alter Frauenschänder. Habe seine eine Geliebte und deren zwei Kinder aus geschiedner Ehe im Café kennengelernt. Angeline und Philippe. In den Augen der Kinder Angst. In ihrer Gegenwart erzählt er mir auf deutsch, daß er die Mutter auf Baumstämmen und Feldsteinen fickt. Die Kinder mag er nicht. Die Frau glaubt, er sei nur „provocateur“, liebt ihn. Sein Geld will sie nicht. Die wahllos Dumme! Das Kinderopfer hätte sie mit Absicht geehrt.
„Du glaubst nicht, wie schön das im Sommer hier oben ist! Wie schön!“ Hat mich durch seine 27 Hektar geführt, und es ist. Er sagt: „Das ist mein Land. Aber ich bin traurig“, will mir 5 Hektar schenken, sagt, ich müsse nichts fürs Leben bei ihm zahlen. „Wir beide! Wir werden Partner! fiffty-fiffty. Wir züchten Strauße. In Paris kaufen sie die Federn, zahln für ein Ei hundertfuffzig. Oder wir baun Blockhäuser für die Engländer. Zwei für mich, eins für dich. Das machen wir notarjell.“ Nach vier kinderlosen Ehen bin ich seine Hoffnung. Das Scheusal will noch einmal, mit fünfzig, was „Großes aufziehn“.
Eingeschlagen: „Komme im November! Versprochen!“ (lockt mich das hochgelegne Land mit der ausgebauten Feldscheune, die er fraufickend behaust). Vorerst will ich morgen Geld „leihen“. 1000 Mark.
Do., den 5.
WANDELGANG
Meines Angesichts Leintuch --
Gehöhlter als irgendeine Idee,
Die zum Schritt aus der Zeit
Oder vom Hinterherschaun
Gesichteter, formüberhoben
In Klarheit befreite.
Fr., den 6.
Goldne Leber, jahresweit,
Auf braunen Seiten.
Schwerer Schlag -:
Des Schnees Jahresboden
Vom glänzenden Dache -:
In meine Juli-Sommerhoden.
Da dringt die Lache
Des goldnen Apfels
Der Apfelsine zu.
Ja-hach! Hei!
Sa., den 7.
Bei Sylphia: bin am morgen betrunken, weil ich Monsieur Klaus erwarte. Es ist soweit, daß mich die Leute grüßen, verdächtigen, St. Pons nicht vor der nächstjährigen Ernte verlassen zu wollen. Ich nähre deren Befürchtung. Das maronenblonde Söhnchen der Greengrocerin will mit mir ins Hallenbad nach Béziers fahren (geschenkt, mein Jung, denn du willst Freude). Und: Schön war es im bamberger Apfelgarten.
Am Nachmittag: Angst und Schwert-Tage, geschliffne Sekunden. Auf großer Fahrt. Verlust der Dinge, Niederlage, augenblicks im Widerwort: Ich lebe, will, daß die Beschlüsse vollzogen werden, diktiere fünfjährig der Mutter: „Trockenheit herrscht. Sonne fiel mit Kraft auf die Erde. Menschen und Wölfe heulen in den heißen Wind und Felsen zerfallen zu Staub.“ -- Was durfte das werden?
Wo war Sommer? Ich schaue aus dem dunklen Gewölbe Sylphias die droh-alten Bäume.
-- Fahrtenbuch flicht in die Ségurschrift. Es wird: Wirklich Unwirkliches. Mythisches Leben, wie am 17. September formuliert. Der Graf ist wiedergekommen, heißt Monsieur Klaus, Hans heißt Thomas.
So., den 8.
Kleiner Mythos, in süße Wirklichkeit verflochten. Hätte Jean nicht fortschicken dürfen. Bin mit Thomas fortgegangen. Nachts sprechen unsre Tiere.
Sa., den 14.
EPITAPH.
Wo man die Idee Hitler ruhen fand.
An blondgeschnürten Ketten langgelegt,
Aus der Tiefe kopfgehöhlt,
Mit heilandsblauen Zungen festgemacht,
Lacht hier die Sommerfreude Sansibars
Aus dem rotgedrehten Auge Angelas.
Mi., den 18. -- sentimentale Genüsse --
Gift der Schreiber: solcherart Hoffnung wecken, als würde Tat mit Wirklichkeit belohnt.
Die Fahrt ist nicht zuende.
Jean und die Wanderschaft mit Thomas fallen auf Papier in Eines. Zwei sei. Drei ist verflucht.
Sa., den 26. -- Deutschland --
Setze deutschen Heiligtümern zwischen Schlaf und Ewigkeit Brandvögel auf. War einmal als Spiel gedacht, über die Jahre das Feuer, wackere Farbkavalliere, eines um das andre nehmen zu sehn.
Feuersturm in einer Stadt (Jericho, Jerusalem, Rom), süßer Geruch, der in steinernen Zimmern umbringt, Pfiff und Messer, Lachen und Stich, Schlag und Explosion der Sehnsucht, Brand in den Gärten und Trommelschlag.
Mo., den 27.
Schlaflicht im Wald, großes Feuer: Spuren werden schmal, Tritte schmelzen voll süßen Dunkelwassers. In den Trittspuren steht das Eis, liegen Sternscheiben. Im Wollschal Geruch der Steppe, an den Sockenumschlägen Schneesteine. Gottes nahe Werdung im Geruch der Weihnacht. Im Stall zu Bethlehem die ganze Reichslandschaft der Musik, die Geziertheit eines erfrornen Kindes.
-- Lärm in der brennenden Dauer. Als ein Ikarus erscheint über der Kybele der Gekreuzigte in der blauschwarzen Frische des Morgens. Und in dem Sternmorgen - Zärtlichkeiten des Windes auf indischen und nördlichen Reliefs der Paradoxa - in der Urform der Doppelhelix, des Atems aller Länder und Völker und Liebesspiele, auf dem Millionenband der Einzelerinnerung, erscheint als des werdenden Augenblicks Maske, aufgeworfen als blutroter Mond über Bethlehem Satan.
Mi., den 28.
WÄRE das Gleichgewicht rückwärtiger und fiktionaler Kräfte nur eine Woche später gekippt -- am Erfolg des literarischen Unternehmens zweifelte ich nicht. So aber. In Grenzländern, in denen jeder Augenblick mehr heilig ist als bedeutend, fange ich an zu reden, sonst bin ich stumm. Ich hoffe, daß jeder Schluß der Beschluß eines Vollständigen ist. Darf am Ende nicht so ausschaun, als ob irgendeine Kraft gemindert worden WÄRE.
Do., den 29.
Im Fahrtenbuch geblättert: Kein Kontinuum gefunden, nur Stand in der Bewegung. Offenliegende Mechanik des Leeren Reichs. Als Funktion ausgeführt, die ich wollte, wunschlos ..... hätte ich gewünscht und nicht vollzogen.
Mo., den 30.
Nachts, in der Waldflanke des Montségurs, hatten wir Angst.
Ich friere.
Die Fahrt ist zuende.
---
Geschützt sei der Praetendent!
